Suchtberatung ist systemrelevant
Ravensburg/Allgäu - Alkohol und andere Drogen können Menschen in die Isolation treiben. Doch was ist, wenn die Isolation wegen einer Pandemie zum Alltag wird? Keine persönlichen Treffen und Beratungsgespräche, kein Austausch in Selbsthilfegruppen, teilweise geschlossene Anlaufstellen: Die Corona-Krise hinterlässt auch in der Suchthilfe ihre Spuren. "Die Dringlichkeit einer stabilen und verlässlichen, ausreichend finanzierten Suchthilfe ist angesichts der Corona-Pandemie noch stärker in den Fokus gerückt. Suchtberatung ist systemrelevant", sagt Rainer Willibald, Leiter des Dienstes Suchthilfe und Prävention der Caritas Bodensee-Oberschwaben. Mit einem zum ersten Mal stattfindenden bundesweiten Aktionstag Suchtberatung "Kommunal wertvoll!" am 4. November möchte die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) daher auf die angespannte Situation der Suchberatungsstellen aufmerksam machen sowie Bevölkerung und Kommunen für die Problematik sensibilisieren. Schirmherrin des Aktionstags ist die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig. "Wenn die Hilfe vor Ort wegbricht, stehen Suchtkranke und ihre Angehörigen allein da. Gute Beratung vor Ort ist der erste Schritt raus aus der Sucht und rein in ein gesundes Leben", so die Schirmherrin. Auch die Caritas Suchthilfe beteiligt sich an diesem Aktionstag und wendet sich - da im Zuge der geltenden Corona-Regelungen keine Veranstaltungen oder Events möglich sind - mit aktuellen Informationen an die Öffentlichkeit.
Die Suchthilfe befinde sich insgesamt in einem rasanten Wandel, der auf verschiedenen Ebenen laufend Anpassungs- und Veränderungsprozesse sowie eine kontinuierliche fachliche Weiterentwicklung des Hilfeangebots erforderlich mache, gibt Willibald zu bedenken. Die Caritas Suchthilfe ist im Landkreis Ravensburg an insgesamt sechs Standorten vertreten (Ravensburg, Wangen, Nebenstelle Bad Waldsee sowie Außensprechstunden in Leutkirch, Isny und Bad Wurzach) und stellt mit multiprofessionellen Teams aus Ärzten, Suchtberater*innen und Suchtherapeut*innen sowie einer Psychologin eine dezentrale und gemeindenahe Versorgung sicher. Neben Hilfe, Beratung, Begleitung und Information für Betroffene und deren Angehörige engagiert sich die Caritas Suchthilfe auch in den Bereichen ambulante Rehabilitation, Nachsorge sowie Prävention und setzt auf das Zusammenwirken hauptamtlicher und ehrenamtlicher Experten. Die enge und kooperative Zusammenarbeit im regionalen Suchthilfenetzwerk mit ZfP, Selbsthilfegruppen, Behörden, Polizei und Staatsanwaltschaft, Kliniken und Ärzten, Psychotherapeuten, Kostenträgern, Wohnungslosenhilfe sowie anderen sozialen und gesundheitsbezogenen Diensten im Landkreis Ravensburg bewährt sich bestens - auch in Krisenzeiten.
"Eine Entwarnung im Bereich Sucht gibt es keinesfalls", betont Willibald. Vielmehr werden im Zuge von Corona die Fallzahlen weiter ansteigen, vermutet er. Schon zum jetzigen Zeitpunkt (Stand: Ende Oktober) sei die Zahl der Klient*innen um rund 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 2019 hatten sich 1.704 Ratsuchende (Einfach- und Mehrfachkontakte) an die Caritas Suchthilfe an den sechs Standorten gewandt. Mit Beginn des Lockdowns Anfang März sei man zunächst auf Telefonberatungen und digitale Kommunikation ausgewichen. "Wir haben aber festgestellt, dass dies auf Dauer nicht so gut funktioniert und die persönliche Beratung nicht ersetzen kann. Die Betroffenen wollen Kontakt und persönliche Ansprache. Sie möchten zu uns kommen", berichtet Willibald. Daher biete man jetzt auch wieder Präsenz-Beratungen an - natürlich unter strenger Einhaltung der geltenden Hygiene- und Abstandsvorschriften. "Gerade auch in Lockdown- und Krisen-Zeiten darf sich die Caritas nicht verstecken", betont Christopher Schlegel, Fachleiter bei der Caritas Bodensee-Oberschwaben. Es sei zu befürchten, dass angesichts neuer Kontaktsperren die allgemeine Suchtgefahr weiter steige. So wurden laut einer aktuellen Studie zum Konsumverhalten während des Lockdowns im Frühjahr zu Hause größere Mengen Alkohol getrunken und auch früher am Tag. Bei den illegalen Drogen verändern sich riskante Konsummuster und auch die Gefahr einer Onlinesucht oder Spielsucht sei nicht zu unterschätzen, warnt Willibald. Alkohol- und Drogenkonsum seien auch Seismograf für die Bewältigung persönlicher Krisen. Hier brauche es die Suchtberatung als Institution für zwischenmenschliche Rettungsschirme.