Die Caritas gehört mitten ins Leben
Herr Kohler, in Ihrer Zeit als Regionalleiter haben Sie mit erfolgreichen und vielfach kopierten Hilfskonzepten und -strategien auf die großen Probleme unserer Zeit reagiert: Kinderarmut, Wohnungsnot und die alternde Gesellschaft. Woher nahmen Sie den Mut und die Motivation, als Impulsgeber voranzugehen?
Ewald Kohler verabschiedet sich von seinen Weggefährten am letzten Tag seiner Wirkungszeit.Helen Bartknecht
EWALD KOHLER: Zum einen hat es zu meiner Aufgabe und Verantwortung gehört. Dass Antworten gegeben werden, auf wichtige gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Ich wurde bereits früh geprägt, schon in der katholischen Jugendarbeit, als wir uns mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandergesetzt haben. Ich war auch geprägt durch meinen beruflichen Werdegang, als ich in der Sozialplanung der Stadt Stuttgart tätig war. Bedeutend ist dabei, die Überzeugung zu haben, dass man etwas tun kann, dass man etwas verändern kann. Dann kommt der Mut automatisch.
Wenn Sie zurückblicken, was war für Sie eine besonders herausfordernde Zeit?
KOHLER: Es waren eigentlich immer herausfordernde Zeiten. Am Anfang beschäftigte mich der Wandel von Lebensverhältnissen von Familien sehr. Wie man als Caritas darauf reagieren kann, wie man sie unterstützen kann. Der Familientreff im Ravensburger Caritas-Zentrum war beispielsweise eine Folge daraus. In den Neunzigern gab es auch Familienkonferenzen, die öffentlichkeitswirksam waren, um das Thema auf die Agenda kommunaler Familienpolitik zu setzen.
Dann kam eine Phase, von 2006 bis 2011, als das Thema Armut im Fokus Stand. Weil es auch hier in unserer Region nicht unerhebliche, materielle Armut gab, haben wir die Tafeln gegründet. Das führte auch zur Gründung der ersten Kinderstiftung. Nach der Hartz-IV-Reform hat sich die Situation für einige Familien verschärft. Wir sahen großen Handlungsbedarf. Um jedoch etwas anzustoßen und zu entwickeln, hat es immer erstmal viel Überzeugungsarbeit bei Partnern gebraucht. Das war herausfordernd. Um Kinderarmut möglichst in allen Sozialräumen in unserer Region zu lindern, entstanden von 2008 bis 2017 die drei Kinderstiftungen: Angefangen bei der Kinderstiftung Ravensburg im Schussental und Umgebung, der Kinderstiftung Bodensee 2011 im östlichen Bodenseekreis und zuletzt im württembergischen Allgäu mit der Stiftung Kinderchancen Allgäu.
Im Jahr 2015 folgte mit der Flüchtlingskrise eine weitere herausfordernde Zeit. Es zeigte sich, dass der bisherige Weg der Integrationsarbeit so nicht zielführend war. Die starren Säulen der Integrationsarbeit waren ein Problem. Dass sich neu angekommene Menschen integrieren können, muss in engem Schulterschluss mit den Kommunen und der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet werden. Es muss eine Stelle geben, die Angebote bündelt. In diesem Zuge und als Reaktion auf das Fluchtgeschehen 2015 entstanden unsere Integrationszentren in Weingarten und Aulendorf.
Welchen Widerständen sind Sie in Ihrer Arbeit begegnet?
Ganz am Anfang meiner Zeit als Regionalleiter haben wir in der Ravensburger Weststadt ein Stadtteilbüro für Spätaussiedler eingerichtet. Der damalige Oberbürgermeister der Stadt Ravensburg bat mich höflich, "lieber kein Caritas-Schild an der Tür anzubringen", mit der Begründung, dies könnte die Leute abschrecken. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Das zeigte, wie die Caritas als Organisation zu diesem Zeitpunkt gelesen und angesehen wurde, nämlich als Anlaufstelle für die Verlierer der Gesellschaft, für Menschen, die irgendwie nicht klarkommen. "Ihr von der Caritas, hoffentlich muss ich nie zu euch kommen", so etwas wurde zum Beispiel auch zu mir gesagt. Oder ein Lokalredakteur meinte einmal nach einem Pressetermin: "Sie wenden sich nur an die Presse, um zu jammern."
Das machte mir klar: Wir müssen ein anderes Bild vermitteln. Wir müssen eine offene Caritas sein, mit niederschwelligen Angeboten, wo jeder hingehen mag, wo Familien gerne hingehen, ein Ort, wo man sich engagieren kann. Das war meine Vision, die mich angetrieben hat. Und wir wollen dabei etwas über gute Botschaften erreichen. Wir wollen eine positive Botschaft, Perspektiven vermitteln und Leute damit motivieren, bei diesen Zielen mitzuhelfen. Ich wollte stets, dass man sich als Caritas nicht verstecken darf. Die Caritas gehört mitten ins Leben. Als ich anfing, gab es keinen einzigen Ehrenamtlichen. Jetzt haben wir um die 900 Ehrenamtliche in unserer Region. Und das Image der Caritas, das hat sich inzwischen gewandelt.
Letztes Foto von Ewald Kohler zusammen mit seiner Nachfolgerin Petra Honikel.Helen Bartknecht
Was wollen Sie Ihrer Nachfolgerin mitgeben?
Ich möchte ihr mitgeben, dass es wichtig ist, positiv zu bleiben und den Mut zu haben, etwas Neues zu entwickeln. In unserer Region gibt es ein großes solidarisches Potential, Menschen, die sich engagieren und helfen wollen. Da unterscheidet sich unsere Region von anderen. Darauf kann man aufbauen. Sie kann sich zuversichtlich und mutig an die Arbeit machen.
Welche Pläne haben Sie für den Ruhestand?
Ich freue mich erstmal, Zeit zu haben für private Dinge, die zu kurz gekommen sind. Auch Zeit zu haben, mal spontan etwas zu machen, wie Radzufahren oder in die Berge zu gehen. Auch Freunde zu treffen und mehr Zeit für Hobbys zu haben. Und gleichzeitig ist es so, dass ich erkannt habe, dass zu meinen Leben Engagement gehört. Darum ist es mir ein Anliegen, weiterhin Projekte zu unterstützen wie etwa das Zentrum für behinderte Kinder in Vietnam. Hier werde ich mich einbringen, damit sich dieses Förderzentrum gut entwickeln kann.