Den Mann, Sohn und Enkel verloren
Trauma-Beraterin Nina Poelchau (links) und Caritas-Fachleiterin Angelika Hipp-Streicher haben das Angebot Traumabegleitung für Geflüchtete in Weingarten ins Leben gerufenBarbara Müller
Von Barbara Müller
Weingarten - Seit Mai vergangenen Jahres empfangen und begleiten Mitarbeiter und Ehrenamtliche der Caritas Bodensee-Oberschwaben in der Behelfsunterkunft 14 Nothelfer in Weingarten aus der Ukraine geflüchtete Familien - hauptsächlich Frauen und Kinder. Viele von ihnen haben unvorstellbar Schreckliches erlebt. Seit Juni bietet die Caritas als Unterstützung eine Traumabegleitung mit Traumaberaterin Nina Poelchau an. Das Projekt wird über Spenden finanziert.
Kriegserfahrungen prägen Menschen ein Leben lang. Viele der im 14 Nothelfer gelandeten Menschen kommen aus zerbombten Städten und haben unvorstellbares Leid erfahren. Die Folgen sind unabsehbar. Die Geflüchteten leben bis zu sechs Monaten in der Behelfsunterkunft, die 180 Personen aufnehmen kann, danach soll eine Unterbringung in Anschlussunterkünften erfolgen. Die jeweiligen Zuweisungen obliegen dem Landkreis. "Das Angebot Traumabegleitung ist eine entscheidende Hilfe - vor allem in den ersten Monaten", sagt Angelika Hipp-Streicher, Caritas-Fachleiterin Soziale Hilfen. Es biete Stabilisation und Begegnung, baue Netzwerke auf und stärke die betreffenden Personen, die aus unterschiedlichen Städten in der Ukraine kommen. Auch Mütter beispielsweise könnten durch eine Traumabegleitung ihre Kinder besser unterstützen und ihnen Förderung bieten. Das Angebot ist für die Caritas ein Pilotprojekt. Es erfahre bisher keine finanzielle Landesförderung und könne ausschließlich durch Spenden sowie durch einen Zuschuss des Landkreises finanziert werden, bedauert Angelika Hipp-Streicher. Wichtig sei es, solche Angebote in bestehende Beratungsangebote zu integrieren und entsprechend zu fördern.
Mit Nina Poelchau konnte die Caritas für 25 Stunden im Monat eine erfahrene Trauma-Beraterin für das Projekt gewinnen. Sie ist in Krisenbegleitung, Traumaberatung und Gesprächstherapie ausgebildet, war als Redakteurin für den "Stern" tätig und hat in Hamburg über viele Jahre mit Geflüchteten gearbeitet. "Wir wissen aus Kriseninterventionsstudien, unter anderem der Universität Konstanz, wie wichtig nach einer Traumatisierung eine zeitnahe Begleitung ist", sagt sie. Dabei gehe es nicht um eine später ansetzende und in die Tiefe gehende Traumatherapie, sondern um Stabilisierung, Ressourcenarbeit und Selbstermächtigung. Nina Poelchau nutzt als Grundlage für ihre Arbeit zweisprachige Screening-Bögen der Integrating Refugee Health and Wellbeing - mit ganz alltäglichen Fragen wie beispielsweise: Schlafen Sie gut, denken Sie viel nach, fühlen Sie sich traurig oder haben Sie körperliche Probleme oder Angst? Vor allem die Frage, ob sie sich hilflos fühlen, werde von einem Großteil der Geflüchteten mit "ja" beantwortet. "Die Screening-Bögen sind ein guter Weg, auch Menschen zu erreichen, die zunächst sagen, sie seien stark und wollten nichts mit Psychologie zu tun haben", so Nina Poelchau. Die im Integrationszentrum Weingarten durchgeführte Traumaberatung wird sowohl von Personen aus der Behelfsunterkunft als auch von Ukrainern, die bereits in Anschluss- oder Privatunterkünften leben, wahrgenommen und von einer Übersetzerin begleitet.
Die Geflüchteten seien oft wie erstarrt, voll gegenseitigen Misstrauens und hätten untereinander wenig Kontakt. Hier setze die Traumaberatung an. Nina Poelchau berichtet von menschlichen Schicksalen wie dem von Svetlana aus Mariupol, die ihren Mann, Sohn und Enkel verloren hat und nach dem schweren Angriff auf das dortige Theater aufgegriffen und nach Deutschland gebracht wurde, oder von Ivana aus Saporischschja, deren Sohn von Russen verschleppt wurde und die seither ohne Nachricht von ihm ist und mit Ohnmachtsgefühlen kämpft. "In unseren Beratungen haben Emotionen Platz", sagt Nina Poelchau. Sie bietet Beratungsgruppenstunden an, in denen jeder zu Wort kommt und in denen erzählt, geweint, aber auch gelacht wird. "Es ist für mich zutiefst ergreifend zu sehen, wie die Gruppe zusammengewachsen ist und wie viele kommen", sagt Nina Poelchau. Wenn es zu schlimm werde, jemand nicht mehr aufhöre zu erzählen oder so leise werde, dass die anderen nichts mehr hören können, oder wenn jemand in eine Art Trance abgleite, dann führe sie mit den Betreffenden grundsätzlich Einzelgespräche, um Schuldgefühle und Selbstzweifel abzubauen. "Wenn sich diese Menschen öffnen und Hilfe annehmen können, habe ich mein Ziel erreicht", so die Traumaberaterin.
Infokasten:
Das Angebot Traumaberatung ist auf Spenden angewiesen. Wer das Projekt finanziell unterstützen möchte, kann dies tun - über das Spendenkonto:Caritas Bodensee-Oberschwaben, Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE83 6012 0500 0001 7906 00, Swift-BIC: BFSWDE33STG.
Hinweis: Dieser Artikel ist am 5. Januar 2023 in der Schwäbischen Zeitung erschienen.